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Urteil Obergericht (BE)

Zusammenfassung des Urteils SK 2021 439: Obergericht

Der Text handelt von einem Revisionsgesuch betreffend einen Strafbefehl wegen Verstosses gegen das Epidemiengesetz durch Teilnahme an einer unzulässigen Veranstaltung. Die Gesuchstellerin beantragt die Aufhebung des Strafbefehls aufgrund der Bundesrechtswidrigkeit der zugrundeliegenden kantonalen Verordnung. Das Obergericht des Kantons Bern prüft die Eintretensfrage und die Frage der Nichtigkeit des Strafbefehls. Das Bundesgericht hat festgestellt, dass die kantonale Regelung zur Teilnahmebeschränkung an Veranstaltungen bundesrechtswidrig war. Die Kammer entscheidet, dass der Mangel nicht offensichtlich war und die Rechtssicherheit nicht ernsthaft gefährdet wurde, weshalb der Strafbefehl nicht als nichtig erklärt wird.

Urteilsdetails des Kantongerichts SK 2021 439

Kanton:BE
Fallnummer:SK 2021 439
Instanz:Obergericht
Abteilung:-
Obergericht Entscheid SK 2021 439 vom 04.11.2022 (BE)
Datum:04.11.2022
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:20221011_162355_ANOM.docx
Schlagwörter : Bundes; Recht; Bundesgericht; Revision; Covid; Covid-; Person; Befehl; Kanton; Personen; Nichtig; Kundgebung; Nichtigkeit; Urteil; Entscheid; Bundesgerichts; Verordnung; Staatsanwaltschaft; Verfahren; Einstellung; Sachverhalt; Rechts; Urteil; Kundgebungen; Revisionsgr; Entscheid; Massnahme
Rechtsnorm:Art. 1 StGB ;Art. 101 BGG ;Art. 320 StPO ;Art. 410 StPO ;Art. 411 StPO ;Art. 412 StPO ;Art. 42 BGG ;Art. 428 StPO ;Art. 49 BV ;Art. 50 BV ;
Referenz BGE:130 III 430; 131 I 28; 144 IV 362; 75 IV 181;
Kommentar:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017

Entscheid des Kantongerichts SK 2021 439

SK 2021 439 - 20221011_162355_ANOM.docx
Obergericht
des Kantons Bern

2. Strafkammer
Cour suprême
du canton de Berne

2e Chambre pénale

Hochschulstrasse 17
Postfach
3001 Bern
Telefon +41 31 635 48 08
Fax +41 31 634 50 54
obergericht-straf.bern@justice.be.ch
www.justice.be.ch/obergericht
Beschluss
SK 21 439
Bern, 4. November 2022



Besetzung Oberrichterin Bratschi (Präsidentin),
Oberrichter Horisberger,
Oberrichterin Friederich Hörr
Gerichtsschreiber Jaeger



Verfahrensbeteiligte A.__
Verurteilte/Gesuchstellerin

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern
Gesuchsgegnerin



Gegenstand Revisionsgesuch vom 24. September 2021 betreffend Strafbefehl der Regionalen Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland vom 6. August 2021 (BM.__)
Erwägungen:
I. Prozessgeschichte
1. Mit Strafbefehl vom 6. August 2021 wurde A.__ (nachfolgend: Gesuchstellerin) durch die Regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland (nachfolgend: Staatsanwaltschaft) wegen Widerhandlung gegen das Epidemiengesetz durch Teilnahme an einer unzulässigen Veranstaltung (Kundgebung von mehr als 15 Personen), begangen am 19. März 2021, 12.36 Uhr schuldig erklärt (Verfahren BM.__). Die Gesuchstellerin wurde mit einer Busse von CHF 100.00, bei schuldhaftem Nichtbezahlen ersatzweise mit einer Freiheitsstrafe von einem Tag, bestraft. Zudem wurden ihr Gebühren in der Höhe von CHF 100.00 auferlegt. Infolge Verzichts auf eine Einsprache erwuchs der Strafbefehl in Rechtskraft.
2. Mit Eingabe vom 24. September 2021 reichte die Gesuchstellerin beim Obergericht des Kantons Bern ein Revisionsgesuch ein. Die Gesuchstellerin beantragte sinngemäss, der Strafbefehl vom 6. August 2021 sei für nichtig zu erklären bzw. aufzuheben (pag. 1).
3. Mit Verfügung vom 6. Oktober 2021 wurde vom Eingang des Revisionsgesuchs Kenntnis genommen und die amtlichen Akten bei der Staatsanwaltschaft ediert (pag. 11 f.).
4. Mit Verfügung vom 23. September 2021 wurde vom Eingang der edierten Akten der Staatsanwaltschaft Kenntnis genommen und gegeben. Weiter wurde verfügt, dass weitere Verfügungen nach Vorliegen der schriftlichen Begründung des Urteils des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021 (Beschränkung der Teilnehmerzahl an Kundgebungen im Kanton Bern) erfolgen würden (pag. 19 f.).
5. Mit Schreiben vom 15. Oktober 2021 reichte die Gesuchstellerin einen Nachtrag mit dem Antrag auf Aufhebung des Strafbefehls vom 6. August 2021 und der Einstellung des Strafverfahrens ein. Eventualiter sei die Sache an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen mit der Anweisung das Strafverfahren einzustellen. Sämtliche Gebühren und Verfahrenskosten seien dem Kanton Bern aufzuerlegen (pag. 23 f.).
6. Mit Verfügung vom 10. Februar 2022 wurde der Generalstaatsanwaltschaft/Gesuchsgegnerin (nachfolgend: Generalstaatsanwaltschaft) eine Kopie des Revisionsgesuchs und des Nachtrags zugestellt und sie wurde aufgefordert, eine Stellungnahme einzureichen. Der Staatsanwaltschaft wurde Gelegenheit gegeben, ebenfalls eine Stellungnahme einzureichen (pag. 25 f.).
7. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragte mit Stellungnahme vom 3. März 2022 die Abweisung des Revisionsgesuchs sowie die Auferlegung der Verfahrenskosten an die Gesuchstellerin (pag. 37 ff.).
8. Mit Verfügung vom 15. März 2022 wurde vom Eingang der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Kenntnis genommen und gegeben und der Gesuchstellerin sowie der Staatsanwaltschaft eine Kopie zugestellt. Weiter wurde festgestellt, dass sich die Staatsanwaltschaft nicht hat vernehmen lassen. Der Gesuchstellerin wurde die Gelegenheit gegeben, eine Replik einzureichen (pag. 43 f.).
9. Mit Schreiben vom 2. April 2022 reichte die Gesuchstellerin fristgerecht eine Replik ein (pag. 49 ff.).
10. Von der Replik wurde mit Verfügung vom 3. Mai 2022 Kenntnis genommen und gegeben und der Generalstaatsanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft eine Kopie zugestellt. Der Generalstaatsanwaltschaft wurde die Gelegenheit gegeben, eine Duplik einzureichen (pag. 57 f.).
11. Die Generalstaatsanwaltschaft reichte mit Schreiben vom 17. Mai 2022 eine Duplik ein (pag. 63 f.).
12. Mit Verfügung vom 1. Juni 2022 wurde den Parteien die Duplik zugestellt, der Schriftenwechsel als abgeschlossen erachtet und – unter Bekanntgabe der Zusammensetzung des Gerichts – der Entscheid der Kammer in Aussicht gestellt. Allfällige Schlussbemerkungen seien umgehend einzureichen (pag. 67 f.).
13. Mit Schreiben vom 4. Juni 2022 reichte die Gesuchstellerin Schlussbemerkungen ein (pag. 73 f.).
14. Vom Eingang der Schlussbemerkungen der Gesuchstellerin wurde mit Verfügung vom 16. Juni 2022 Kenntnis genommen und gegeben (pag. 77 f.).
II. Ausgangslage
12. Im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie beschränkte der Kanton Bern die Anzahl Teilnehmende an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen für die Zeit vom 19. Dezember 2020 bis 31. Mai 2021 stark (Art. 6a der Verordnung vom 4. November 2020 über Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie [Covid-19 V; BSG 815.123], Stand 18. Dezember 2020 bis Stand 27. Mai 2021). Als Folge dieser Massnahme waren im Kanton Bern am 19. März 2021 Kundgebungen von mehr als 15 Personen verboten. Der Strafbefehl, der dem vorliegenden Revisionsgesuch zu Grunde liegt, stützt sich auf diesen Art. 6a Covid-19 V.
13. Mit Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021 wurde diese kantonale Bestimmung für bundesrechtswidrig erklärt, da sie in unverhältnismässiger Weise in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit eingegriffen habe. Die Gesuchstellerin bezieht sich in ihrem Revisionsgesuch auf diesen Bundesgerichtsentscheid.

III. Eintretensfrage
1. Wer durch einen rechtskräftigen Strafbefehl beschwert ist, kann nach Art. 410 Abs. 1 StPO die Revision verlangen, wenn neue, vor dem Entscheid eingetretene Tatsachen neue Beweismittel vorliegen, die geeignet sind, einen Freispruch eine wesentlich mildere Bestrafung der verurteilten Person herbeizuführen (Bst. a); wenn der Entscheid mit einem späteren Strafentscheid, der den gleichen Sachverhalt betrifft, in unverträglichem Widerspruch steht (Bst. b); wenn sich in einem anderen Strafverfahren erweist, dass durch eine strafbare Handlung auf das Ergebnis des Verfahrens eingewirkt worden ist, wobei eine Verurteilung nicht erforderlich ist und der Beweis, sofern das Strafverfahren nicht durchführbar ist, auf andere Weise erbracht werden kann (Bst. c). Revisionsgesuche sind gemäss Art. 411 Abs. 1 StPO schriftlich und begründet beim Berufungsgericht einzureichen. Im Gesuch sind die angerufenen Revisionsgründe zu bezeichnen und zu belegen. Gesuche nach Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO sind innert 90 Tagen nach Kenntnisnahme des betreffenden Entscheids zu stellen. In den Fällen nach Art. 410 Abs. 1 Bst. a StPO ist das Revisionsgesuch an keine Frist gebunden (Art. 411 Abs. 2 StPO).
2. Als verurteilte Person ist die Gesuchstellerin durch den fraglichen Strafbefehl beschwert und somit zur Gesuchstellung legitimiert. Mit dem rechtskräftigen Strafbefehl liegt ein revisionsfähiger Entscheid im Sinne von Art. 410 Abs. 1 StPO vor. Das Gesuch wurde formgerecht gestellt (Art. 411 Abs. 1 StPO).
3. Die Gesuchstellerin macht einerseits die Nichtigkeit respektive die Anfechtbarkeit des Strafbefehls geltend. Zusätzlich nennt sie den Revisionsgrund des unverträglichen Widerspruchs mit einem späteren Entscheid gemäss Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO.
4. Die Kammer ist als Berufungsgericht für die Beurteilung von Revisionsgesuchen zuständig (Art. 21 Abs. 1 Bst. b und Art. 411 Abs. 1 StPO). Da eine allfällige Nichtigkeit von sämtlichen staatlichen Instanzen beachtet werden muss (BGE 130 III 430 E. 3.3), erachtet sich die Kammer vorliegend auch für jene Rügen als zuständig, die sich direkt auf die vom Bundesgericht festgehaltene Bundesrechtswidrigkeit beziehen und nicht auf einen Revisionsgrund gemäss Art. 410 StPO.
5. Sofern sich die Gesuchstellerin auf den Revisionsgrund des unverträglichen Widerspruchs mit einem späteren Strafentscheid gemäss Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO stützt, ist das Revisionsgesuch innert 90 Tagen nach Kenntnisnahme des betreffenden Entscheids zu stellen. In den übrigen Fällen sind Revisionsgesuche an keine Frist gebunden (Art. 411 Abs. 2 StPO). Das Gesuch datiert vom 24. September 2021 und ging beim Obergericht am 28. September 2021 ein.
Das Urteil des Bundesgerichts datiert vom 3. September 2021 und wurde gleichentags den Medien mitgeteilt (Medienmitteilung Bundesgericht vom 3. September 2021). Die Frist von 90 Tagen wurde damit gewahrt. Das Gesuch erfolgte damit form- und fristgerecht. Auf das Gesuch ist einzutreten.
IV. Beweisergänzungen
1. Die Strafakten BM.__ wurden mit Verfügung vom 6. Oktober 2021 ediert und nach Eingang zu den Akten genommen.
2. In der Replik beantragte die Gesuchstellerin, die Staatsanwaltschaft sei aufzufordern, Auskunft darüber zu erteilen, wie viele Verfahren im Zusammenhang mit Strafbefehlen aufgrund von Art. 6a Covid-19 V eingestellt worden seien, und dem Gericht die entsprechenden Verfügungen zuzustellen. Die von der Gesuchstellerin beantragten Editionen sind – wie nachfolgend aufgezeigt wird – nicht geeignet, einen Revisionsgrund zu begründen, weshalb der Beweisantrag abgewiesen wird (siehe Ziff. VI.28 unten).
V. Fragestellung und Vorbringen der Parteien
1. Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021
Hintergrund des vorliegenden Revisionsgesuchs ist, wie bereits erwähnt, das Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021. In diesem Entscheid hiess das Bundesgericht eine Beschwerde vom 12. April 2021 gut, in der beantragt wurde, es sei die Nichtigkeit von Art. 6a Covid-19 V festzustellen, eventuell sei Art. 6a Covid-19 V aufzuheben. Das Bundesgericht erklärte Art. 6a Covid-19 V in der Fassung vom 19. März 2021 für bundesrechtswidrig und führte in seinen Erwägungen zusammengefasst Folgendes aus:
Das anhand einer abstrakten Normenkontrolle zu prüfende streitige Verbot für politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen von mehr als 15 Personen sei ein schwerer Eingriff in die Versammlungsfreiheit. Es setze somit eine formell-gesetzliche Grundlage voraus. Die angefochtene Verordnung des Kantons Bern sei kein formelles Gesetz und könne nicht selber eine hinreichende gesetzliche Grundlage für den Grundrechtseingriff darstellen (E. 5.1.). Art. 40 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (EpG; SR 818.101) stelle allerdings eine hinreichende formell-gesetzliche Grundlage für die verhängten Einschränkungen dar, womit die angefochtene Verordnung prinzipiell eine hinreichende gesetzliche Grundlage habe (E. 5.4.). Der Bundesrat habe in Art. 6 der Verordnung über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26, Stand 29. Oktober 2020) Veranstaltungen grundsätzlich verboten, die politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen und die Unterschriftensammlungen von diesem Verbot aber ausgenommen. Demgegenüber erstrecke Art. 6a Covid-19 V in der Fassung vom 19. März 2021 das Veranstaltungsverbot auch auf politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen von mehr als 15 Personen. Es liege auf der Hand, dass diese Vorschrift von der eidgenössischen Verordnung abweiche (E. 5.5.2.). Aus Art. 8 Covid-19-Verordnung besondere Lage ergebe sich ausdrücklich, dass der Kanton unter den im Artikel genannten Voraussetzungen auch zusätzliche Massnahmen treffen könne, d.h. solche, die über das hinausgehen würden, was der Bundesrat in den vorangehenden Bestimmungen der Verordnungen angeordnet habe. Der Kanton könne namentlich auch Einschränkungen für Veranstaltungen vorsehen, welche über die bundesrechtlichen Einschränkungen hinausgehen würden. Der blosse Umstand, dass der Kanton Bern einschneidendere Einschränkungen vorsehe als der Bundesrat als andere Kantone, sei für sich allein noch kein Grund, die Regelung als bundesrechtswidrig zu bezeichnen. Der Kanton müsse aber die in Art. 8 Verordnung besondere Lage enthaltenen Voraussetzungen erfüllen (E. 5.5.3.).
Die per 19. März 2021 geltende Covid-19-Verordnung besondere Lage habe ab 9. Dezember 2020 in Art. 8 Folgendes vorgesehen:
Art. 8 Zusätzliche Massnahmen der Kantone
1 Der Kanton trifft zusätzliche Massnahmen nach Art. 40 EpG, wenn:
a. die epidemiologische Lage im Kanton in einer Region dies erfordert; er beurteilt die Lage namentlich aufgrund folgender Indikatoren und ihrer Entwicklung:
1. Inzidenz (7-Tage, 14-Tage),
2. Anzahl Neuinfektionen (pro Tag, pro Woche),
3. Anteil positiver Test an der Gesamtzahl durchgeführter Tests (Positivitätsrate),
4. Anzahl durchgeführter Test (pro Tag, pro Woche),
5. Reproduktionszahl,
6. Kapazitäten im stationären Bereich sowie Anzahl neu hospitalisierter Personen (pro Tag, pro Woche), einschliesslich solcher in der Intensivpflege;
b. er aufgrund der epidemiologischen Lage nicht mehr die notwendigen Kapazitäten für die erforderliche Identifizierung und Benachrichtigung ansteckungsverdächtiger Personen nach Art. 33 EpG bereitstellen kann.
2 Er gewährleistet dabei namentlich die Ausübung der politischen Rechte sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit.
3 Er hört vorgängig das BAG an und informiert dieses über die getroffenen Massnahmen.
In Bezug auf die Voraussetzung der Erforderlichkeit gemäss Art. 8 Abs. 1 Bst. a Covid-19-Verordnung besondere Lage hielt das Bundesgericht einerseits fest, es sei allgemeinnotorisch, dass ab Herbst 2020 wegen der grossen Zahl von Infektionsfällen eine umfassende Identifizierung und Benachrichtigung ansteckungsverdächtiger Personen nicht mehr möglich gewesen sei. Andererseits integrierte es die abschliessende Prüfung der Erforderlichkeit in die anschliessende Grundrechtsprüfung zur Versammlungsfreiheit (E. 5.5.4.). Diese Prüfung nahm das Bundesgericht in den folgenden Erwägungen vor und kam dabei zum Schluss, dass das vom Kanton Bern verordnete Verbot eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit darstelle und diese nur zulässig sei, wenn sie eine hinreichende gesetzliche Grundlage habe, durch ein öffentliches Interesse durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt, verhältnismässig sei und den Kerngehalt nicht antaste. Eine hinreichende gesetzliche Grundlage liege vor (E. 6.1. ff.). Es bestehe zudem ein öffentliches Interesse (E. 6.5.). Die Einschränkung von zwischenmenschlichen Kontakten sei weiter geeignet, die Übertragung von Viren und damit auch die durch Virenübertragung verursachten Infektionen und Krankheiten zu reduzieren (E. 7.5.). Im Ergebnis sei aber die Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen von 15 Personen aufgrund des Umstandes, dass das gesundheitspolizeiliche Ziel mit milderen Massnahmen erreicht werden könne und angesichts des hohen öffentlichen Interesses an Kundgebungen weder erforderlich noch zumutbar gewesen. Die Verordnungsbestimmung des Kantons Bern stelle einen unverhältnismässigen und somit unzulässigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar und erweise sich als verfassungswidrig (E. 7.6. ff.). Die Besonderheit politischer Kundgebungen bestehe unter anderem darin, dass sie zur demokratischen Meinungsbildung beitragen würden, indem auch Anliegen und Auffassungen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht werden könnten, die innerhalb der bestehenden demokratischen Verfahren Einrichtungen weniger zum Ausdruck kommen würden. Der Versammlungsfreiheit, aufgrund deren zentralen Bedeutung für die Meinungsbildung in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, besonders auch in politisch unruhigen Zeiten, komme im Zusammenhang mit Demonstrationen ein hoher Stellenwert zu. Auch der Bundesrat habe die in Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage statuierte Ausnahme vom (damaligen) grundsätzlichen Veranstaltungsverbot mit der hohen Bedeutung, die politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen in einer grund- und staatsrechtlichen Perspektive zukomme, begründet. Aus diesem Grund seien solche Kundgebungen privilegiert worden. Insbesondere sei keine Begrenzung hinsichtlich der Anzahl Teilnehmer festgelegt worden. Der Bundesrat habe vielmehr erwogen, dass mit der Pflicht der Teilnehmenden, eine Gesichtsmaske zu tragen, das Recht auf freie Meinungsäusserung mit dem erforderlichen Schutz gewährleistet werden könne (E. 7.7.1.). Weiter sei zu berücksichtigen, dass Kundgebungen grundsätzlich im Freien stattfinden würden, wo die Ansteckungsgefahr nach dem aktuellen Stand des Wissens wohl geringer sei als in geschlossenen Räumen. Durch zusätzliche Massnahmen wie Abstandhalten und/oder die Pflicht zum Tragen einer Gesichtsmaske lasse sich das Ansteckungsrisiko weiter reduzieren. Weiter sei der Umstand von Bedeutung, dass Kundgebungen, insbesondere solche, welche in der Bundesstadt Bern durchgeführt würden, erfahrungsgemäss in der Regel auf öffentlichem Grund stattfinden und daher bewilligungspflichtig seien. Im Bewilligungsverfahren seien auch die Randbedingungen, allfällige Auflagen und eventuelle Alternativen zu prüfen und es könne eine dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit genügende Gestaltung eine entsprechende verhältnismässige Mitwirkung der Veranstalter erfordern (E. 7.7.2.). Vor dem Hintergrund, dass die grundsätzliche Bewilligungspflicht für Demonstrationen auf öffentlichem Grund differenzierte Lösungen im Einzelfall sowie die Anordnung risikolimitierender Auflagen erlaube und mit Blick auf die hohe demokratische Bedeutung von Kundgebungen erscheine eine generelle Begrenzung der Teilnehmerzahl auf 15 Personen, wie namentlich bei privaten Veranstaltungen, nicht erforderlich. Die Befürchtung, dass die angeordneten Auflagen an gewissen Kundgebungen nicht eingehalten würden der Umstand, dass der polizeiliche Aufwand zur Durchsetzung dieser Auflagen bei grösseren Veranstaltungen höher sein möge, reiche nicht aus, um die Begrenzung der Teilnehmerzahl als alternativlos erscheinen zu lassen (E. 7.7.3.). Weiter möge es zutreffen, dass bei der heutigen Entwicklung der Kommunikationsmittel und -möglichkeiten Kundgebungen nicht die einzige Möglichkeit darstellten, politische Anliegen und Appelle an die Öffentlichkeit zu tragen Informationen zu vermitteln. Der Stellenwert von physischen Demonstrationen als Mittel der demokratischen Meinungsäusserung werde dadurch reduziert, aber nicht aufgehoben, da Online-Aktionen in der Regel auf weniger Resonanz treffen würden als namentlich Veranstaltungen auf öffentlichem Grund. Es gelte insbesondere zu beachten, dass Kundgebungen in erster Linie auf Aussenwirkungen bedacht seien. Im Gegensatz zu anderen Formen von Meinungsbildung würden sie sich nicht primär an Personen richten, die sich ohnehin bereits für ein bestimmtes Thema interessieren würden; vielmehr sollen auch Dritte bzw. Passanten sowie Medien auf die jeweiligen Anliegen aufmerksam gemacht werden. Kundgebungen auf öffentlichem Grund würden daher ein wirksames Forum bieten, sich in der breiten Öffentlichkeit und den Massenmedien wirksam Gehör zu verschaffen. Insofern erfülle die Versammlungsfreiheit auch eine Ventilsowie eine «Warn-, Kontroll- und Innovationsfunktion». Diese spielten vorliegend – auch mit Blick auf die zahlreichen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid-19 Pandemie verhängten Grundrechtseinschränkungen – eine besonders wichtige Rolle (E. 7.8.1.). Die Begrenzung der Teilnehmenden auf die zum massgeblichen Zeitpunkt von Bundesrechts wegen für private Veranstaltungen geltende Zahl von 15 Personen schränke die Versammlungsfreiheit in Bezug auf Demonstrationen derart ein, dass diese praktisch ihres Gehalts entleert würde. In diesem Kontext sei die Ausübung der Versammlungsfreiheit nahezu verunmöglicht, was letztlich einem faktischen Verbot von Kundgebungen gleichkomme (E. 7.8.2.).
Die Beschwerde erwies sich daher als begründet und das Bundesgericht stellte fest, dass Art. 6a Covid-19 V in der Fassung vom 19. März 2021 bundesrechtswidrig gewesen sei (E. 8.2.).
2. Fragestellung
Nachfolgend ist zunächst zu prüfen, ob die Feststellung des Bundesgerichts, dass Art. 6a Covid-19 V, bundesrechtswidrig war, zur Nichtigkeit des Strafbefehls führte und dies von der Kammer zu beachten ist.
In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob der von der Gesuchstellerin vorgebrachte strafprozessuale Revisionsgrund gegeben ist. Es handelt sich bei der von der Gesuchstellerin eingereichten Eingabe um eine Laieneingabe, welche als Revisionsgesuch betitelt wurde. Auch wenn die Gesuchstellerin nicht sämtliche Revisionsgründe vorbringt, rechtfertigt es sich daher die möglicherweise betroffenen Revisionsgründe zu prüfen.
3. Vorbringen der Gesuchstellerin
Die Gesuchstellerin bringt vor, die rechtliche Grundlage für den Strafbefehl falle gemäss Art. 410 Abs. 1 Bst. a StPO weg. Die Berner Covid-Verordnung, welche beim betreffenden Verfahren als Rechtsgrundlage gedient habe, sei zwischenzeitlich durch das Bundesgericht als bundesrechtswidrig qualifiziert worden. Sie beantragt daher die rückwirkende Aufhebung des Strafbefehls.
In ihrem Nachtrag vom 15. Oktober 2021 bringt die Gesuchstellerin vor, mit Strafbefehl vom 6. August 2021 sei sie einer Widerhandlung gegen das Epidemiengesetz durch Teilnahme an einer Kundgebung von mehr als 15 Personen zu einer Busse verurteilt worden. Diese Verurteilung sei erfolgt, weil sie am 19. März 2021 auf dem Weisenhausplatz an einer losen Kundgebung «Klimastreik Sitzstreik» teilgenommen habe. Dies in einer gesonderten Gruppe mit fünf Personen und jederzeit eingehaltenen Schutzmassnahmen (Abstand, Schutzmasken). Der Kanton Bern habe zu diesem Zeitpunkt mit Art. 6a Covid-19 V Kundgebungen von mehr als 15 Personen verboten. Am 12. April 2021 sei beim Bundesgericht eine Beschwerde gegen den Regierungsrat des Kantons Bern wegen der «Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden an politischen und zivilgesetzlichen Kundgebungen (Art. 6a Verordnung über die Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie; Verlängerung vom 19. März 2021)» eingereicht worden. Wie der Mitteilung des Bundesgerichts vom 3. September 2021 entnommen werden könne, sei die Beschwerde gutgeheissen worden. Der Kanton Bern habe die Teilnehmerzahl nicht auf 15 Personen beschränken dürfen, die Regelung habe sich als unverhältnismässig erwiesen. Das Dispositiv des Bundesgerichts stelle fest, dass Art. 6a Covid-19 V in der Fassung vom 19. März 2021 bundesrechtswidrig gewesen sei. Die Bestimmung in Art. 6a der damals gültigen kantonalen Verordnung könne deshalb im Sinne des Grundsatzes nulla poena sine lege nicht als Grundlage für eine Verurteilung dienen, nur weil mehr als 15 Personen an der Kundgebung vom 12. April 2021 teilgenommen hätten.
Weiter brachte die Gesuchstellerin in ihrer Replik vom 2. April 2022 soweit relevant Folgendes vor:
Die Generalstaatsanwaltschaft bringe vor, dass die Aufhebung von bundesrechtswidrigen Erlassen «ex nunc et pro futuro» und nicht «ex tunc» wirken würde. Dabei berufe sie sich auf ein Bundesgerichtsurteil, bei dem es um die Aufhebung einer Bestimmung der beruflichen Vorsorge gehe. Die Aufhebung der Bestimmung wegen Verletzung des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) habe nur eine Wirkung «ex nunc», weil Art. 50 Abs. 3 zweiter Satz des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) anwendbar sei. Im vorliegenden Fall der Verfassungswidrigkeit einer Erlassbestimmung gebe es aber keine Norm, die einer Wirkung der Aufhebung «ex tunc» entgegenstehe. Der Aussage der Generalstaatsanwaltschaft, wonach die Bundesrechtswidrigkeit der der Verurteilung zugrundeliegenden Verordnung weder offensichtlich noch leicht erkennbar gewesen sei, sei zu widersprechen. Am 12. April 2021 hätten verschiedene Organisationen und Personen Beschwerde beim Bundesgericht mit dem Antrag, es sei festzustellen, dass Art. 6a Covid-19 V nichtig, eventuell aufzuheben sei, erhoben, da dieser verfassungswidrig sei. Die Beschwerde sei ausführlich begründet und gleichentags auf verschiedenen Portalen veröffentlicht worden. Es sei in den Medien darüber berichtet worden und die Beschwerdeschrift habe zu jedem Zeitpunkt online eingesehen werden können. Darin sei die Rechtswidrigkeit der Verordnungsbestimmung ausführlich dargelegt worden. Die Staatsanwaltschaft habe also zumindest erkennen müssen, dass die Rechtmässigkeit der gesetzlichen Grundlage in Frage stehe. Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Staatsanwaltschaft vor diesem Hintergrund das Urteil des Bundesgerichts abgewartet hätte (was überdies auch hohe Kosten eingespart hätte). Es sei der Revisionsgrund von Art. 410 Abs. 1 Bst. a StPO gegeben, weil der zu revidierende Strafbefehl mit Entscheiden, die den gleichen Sachverhalt betreffen würden, in unverträglichem Widerspruch stehe. Mittlerweile seien nämlich in den gleichen Verfahren wegen Widerhandlung gegen die kantonale Covid-Verordnung durch Teilnahme an einer Kundgebung von mehr als 15 Personen im März und April 2021 in den letzten Monaten zahlreiche Einstellungen erfolgt, sowohl beim Regionalgericht Bern-Mittelland (wie etwa im Verfahren PEN.__) als auch von der Staatsanwaltschaft. Es handle sich dabei um Personen, die Einsprache gegen den Strafbefehl (mit identischem Sachverhalt) erhoben hätten. Es seien ihr keine Personen bekannt, die nach dem Einspracheverfahren verurteilt worden seien. Aus diesem Grund wäre es wichtig, dass die Staatsanwaltschaft sich im vorliegenden Verfahren vernehmen liesse und sämtliche Einstellungen bestätige und dem Gericht die entsprechenden Verfügungen zukommen liesse. Im Bereich des Strafrechts sei die Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund gehe es nicht an, dass Personen verurteilt würden, während andere Personen, denen ein identischer Sachverhalt (Teilnahme an einer Kundgebung von mehr als 15 Personen) zur Last gelegt worden sei, durch die Einstellung der Verfahren nicht verurteilt würden. Demnach werde beantragt, dass die Staatsanwaltschaft zur Stellungnahme aufgefordert werde und mitteile, wie viele Einstellungen im Zusammenhang mit Strafbefehlen aufgrund von Art. 6a Covid-19 V erfolgt seien.
In ihren Schlussbemerkungen brachte die Gesuchstellerin soweit relevant ihre Gründe für die Teilnahme an der Kundgebung «Klimastreik Sitzstreik» vor. Weiter seien keine Person weder physisch, psychisch noch materiell zu Schaden gekommen. Es habe auch keinen Vandalismus gegeben, kein Abfall sei liegen geblieben und der Verkehr sei nicht behindert worden. Die Gruppengrösse von fünf Personen sei im erlaubten Rahmen der damals aktuellen Covid19-Bestimmungen gewesen. Auch sei auf korrekte Distanz zwischen den Personen geachtet und die Maskenpflicht stets eingehalten worden. Der Einsatz der Polizei erscheine ihr deshalb unverhältnismässig, insbesondere die verhängte Busse und Bearbeitungsgebühr. Gerade nach den jüngsten Ausschreitungen zwischen diversen Rockerbanden vor dem Amtshaus in Bern stimme einem das nachdenklich. Obwohl rohe Gewalt in der Luft gelegen und es zu heftigen Ausschreitungen gekommen sei, seien nicht alle Personen erfasst, geschweige denn gebüsst worden. Die Polizei argumentiere diesbezüglich mit der Verhältnismässigkeit für einen Einsatz. Es scheine, dass die Sprache der Gewalt ernster genommen werde als ein friedlicher Protest. Es sei unvergleichlich einfacher, junge friedliche Menschen zu büssen, als gewaltbereite Rocker (pag. 73 f.).
4. Vorbringen der Generalstaatsanwaltschaft
Die Generalstaatsanwaltschaft brachte in ihrer Stellungnahme zusammengefasst Folgendes vor:
Strafbefehle seien revisionsfähig. Fehlerhafte Entscheide seien nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nichtig, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer sei, wenn er sich als offensichtlich zumindest leicht erkennbar erweise und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet werde. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung würden nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit führen. Als Nichtigkeitsgründe würden vorab funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht fallen. Die Nichtigkeit eines Entscheides sei jederzeit und von sämtlichen rechtsanwendenden Behörden von Amtes wegen zu beachten. Die Gesuchstellerin führe an, dass der dem Strafbefehl zugrundeliegende Art. 6a Covid-19 V am 3. September 2021 vom Bundesgericht durch Gutheissen einer entsprechenden Beschwerde verschiedener Organisationen für unverhältnismässig bzw. bundesrechtswidrig befunden worden sei, womit eine gesetzliche Grundlage für die Verurteilung nach der kantonalen Covid-19-Verordnung fehle. Dem sei zunächst entgegenzuhalten, dass es zum Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls mit ebendieser Verordnung eine Rechtsgrundlage gegeben habe. Mit dem Entscheid des Bundesgerichts vom 3. September 2021 sei festgestellt worden, dass diese bereits seit dem 16. April 2021 aufgehobene Verordnung bundesrechtswidrig gewesen sei. Es stelle sich damit die Frage, was sich daraus für zuvor gestützt auf diese Bestimmung ergangene Rechtsanwendungsakte ergebe. Das Bundesgericht pflege im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle kantonale Erlasse Bestimmungen, die gegen die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung gegen Vorschriften des Bundesrechts verstossen, aufzuheben, wobei diese Aufhebung «ex nunc et pro futuro» wirke und nicht «ex tunc». Bisher ergangene Rechtsanwendungsakte würden von der Aufhebung unberührt bleiben. Formell rechtskräftige Einzelakte, die sich auf bundesrechtswidriges kantonales Recht abstützen würden, seien nicht nichtig, sie würden aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes grundsätzlich gültig bleiben. Dabei sei zu beachten, dass im Bereich des Strafrechts die Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung sei. Nach der Rechtsprechung könne es nicht angehen, allenfalls noch nach Jahren ein unangefochten gebliebenes und in formelle Rechtskraft erwachsenes Strafurteil nichtig zu erklären. Dass die engen Voraussetzungen der Nichtigkeit vorliegend erfüllt würden, werde von der Gesuchstellerin weder begründet noch sei es ersichtlich. Der Strafbefehl sei von der zuständigen Behörde im korrekten Verfahren erlassen worden. Die der Verurteilung zugrundeliegende Verordnung sei zum Deliktstag in Kraft gewesen. Dass diese bundesrechtswidrig gewesen sei, sei weder offensichtlich noch leicht erkennbar. Es seien zusammengefasst keine Gründe ersichtlich, aus denen der Strafbefehl für nichtig zu erklären wäre. Weitere Revisionsgründe würden von der Gesuchstellerin nicht vorgebracht. Das Revisionsgesuch sei unbegründet und folglich abzuweisen. Beim beantragten Ausgang müsse die Gesuchstellerin die Kosten des vorliegenden Revisionsverfahrens tragen.
In ihrer Duplik vom 17. Mai 2022 machte sie Folgendes geltend:
Es sei zutreffend, dass es im Falle des BGE 131 I 28 E. 5.5 um die Aufhebung einer Bestimmung der beruflichen Vorsorge gegangen sei, und in diesem Zusammenhang Art. 50 Abs. 3 BVG eine Wirkung ex nunc explizit vorsehe. Daraus folge allerdings entgegen den Ausführungen der Gesuchstellerin / des Gesuchstellers nicht, dass dem Entscheid «nur darum» eine Wirkung ex nunc et pro futuro und nicht ex tunc zukomme. Dies würde voraussetzen, dass im Hinblick auf bereits ergangene Rechtsanwendungsakte, die sich auf eine als bundesrechtswidrig erkannte Rechtsgrundlage stützen würden, grundsätzlich und ohne entgegengesetzte rechtliche Bestimmung vom Grundsatz ex tunc auszugehen wäre. Dies sei allerdings nicht der Fall, wie mit Stellungnahme vom 3. März 2022 ausführlich dargelegt worden sei. Ganz im Gegenteil sei dem Grundsatz nach in solchen Fällen von einer Wirkung ex nunc auszugehen, was in Art. 50 Abs. 3 BVG explizit festgehalten sei. Die Ausführung, wonach der Ansicht zu widersprechen sei, die Bundesrechtswidrigkeit der der Verurteilung zugrundeliegenden Verordnung sei weder offensichtlich noch leicht erkennbar gewesen, gehe an der Sache vorbei. Der Beschwerde ans Bundesgericht, die zum zitierten Bundesgerichtsurteil 2C_308/2021 geführt habe, sei keine aufschiebende Wirkung zugekommen. Es habe für die Staatsanwaltschaft demnach kein Anlass bestanden, das Urteil des Bundesgerichts abzuwarten. Für die Frage der Nichtigkeit sei es ferner ohnehin irrelevant, ob die Staatsanwaltschaft habe erkennen können, dass eine Beschwerde im Zusammenhang mit Art. 6a Covid-19 V hängig gewesen sei. Entscheidend sei einzig und alleine, ob sich ein einem Entscheid anhaftender Mangel als offensichtlich zumindest leicht erkennbar erweise, was unabhängig von einer Beschwerde der Fall wäre. Nach Art. 410 Abs. 1 StPO seien im Revisionsgesuch die angerufenen Revisionsgründe zu bezeichnen und zu belegen. Es sei nicht vorgesehen, dass die regionale Staatsanwaltschaft, die sich gemäss Art. 412 Abs. 3 StPO als Vorinstanz zum Revisionsgesuch äussern könne, Belege für das Revisionsgesuch nachreichen solle. Dies könne umso weniger angehen, als diese «zahlreichen Einstellungen» entgegen den Darstellungen in der Replik gerade nicht im gleichen Verfahren erlassen worden seien und der Gesuchstellerin in diesem Verfahren kein Recht auf Akteneinsicht zukomme. Ausserdem sei nicht ersichtlich, inwiefern es zur Beurteilung des vorliegenden Gesuchs relevant sein solle, wie viele Einstellungen im Zusammenhang mit Art. 6a Covid-19 V erfolgt seien.
VI. Nichtigkeit
1. Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Das Bundesgericht liess im Urteil 2C_308/2021 vom 3. September 2021 offen, was sein Entscheid für gestützt auf den bundesrechtswidrigen Art. 6a Covid-19 V erlassene, rechtskräftige Rechtsakte bedeutet. Zu der von den Beschwerdeführern hauptsächlich beantragten Feststellung der Nichtigkeit hielt es lediglich fest (E. 2):
Die Beschwerdeführer beantragen im Hauptantrag die Feststellung der Nichtigkeit von Art. 6a Covid-19 V/BE. Sie begründen dies damit, die Verordnung verstosse gegen Bundesrecht. Die Frage nach den rechtlichen Folgen für kantonales Recht, das Bundesrecht entgegensteht, wird in der Lehre unterschiedlich beantwortet, wobei in der neueren Literatur eine differenzierte Auffassung vertreten wird (vgl. ALEXANDER RUCH, in: Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 21 zu Art. 49 BV; GIOVANNI BIAGGINI, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2017, N. 8 zu Art. 49 BV; jeweils mit Hinweisen; vgl. auch ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER/HELEN KELLER/DANIELA THURNHERR, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10. Aufl. 2020, S. 378 f.; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl. 2021, S. 326 f. Rz. 846 ff.). Die Möglichkeit, im abstrakten Normenkontrollverfahren jederzeit die Nichtigkeit einer kantonalen Norm feststellen zu können, würde namentlich die gesetzlichen Fristen für die abstrakte Anfechtung von Normen (Art. 101 BGG) aushebeln. Weil aber die Beschwerde rechtzeitig erhoben wurde, ist die Frage, ob eine bundesrechtswidrige Norm aufzuheben nichtig sei, vorliegend ohnehin gegenstandslos.
Auch in anderem Zusammenhang hat sich das Bundegericht zu dieser Frage noch nicht geäussert.
2. Allgemeine theoretische Ausführungen
Kantonales Recht kann in verschiedener Hinsicht bundesrechtswidrig sein. Kantonales Recht verstösst einerseits gegen Bundesrecht, wenn der Kanton über seine Kompetenzen hinaus legiferiert hat («Kompetenzkonflikt»). Kantonales und eidgenössisches Recht können sich jedoch auch widersprechen, obwohl der Kanton eine Regelung im Rahmen seiner Zuständigkeit erlassen hat («reiner Normkonflikt»; Biaggini, Kommentar Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2017, N 8 zu Art. 49; Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl. 2021, S. 324; etwas andere Einteilung bei Waldmann, in: Basler Kommentar Bundesverfassung, 1. Aufl. 2015, N 12 ff. zu Art. 49). So kann sich der Konflikt zwischen Bundesrecht und kantonalem Recht daraus ergeben, dass Bund und Kantone innerhalb des gleichen Regelungsgegenstandes die gleiche Rechtsfrage in widersprechender Weise regeln (Normkonflikt und gleichzeitig Kompetenzkonflikt) wenn Bund und Kantone innerhalb des gleichen Regelungsgegenstandes unterschiedliche Rechtsfragen so regeln, dass im Einzelfall widersprechende Rechtsfolgen eintreten können (in der Regel reiner Normkonflikt; Tschannen, a.a.O., S. 324). In der Praxis beinhaltet ein Normkonflikt oft auch einen Kompetenzkonflikt.
Kompetenzwidrige kantonale Erlasse galten nach der früher herrschenden Lehre als nichtig, was als logische Folge die Nichtigkeit aller darauf gestützter Rechtsakte zur Folge gehabt hätte (für eine Übersicht: Tschannen, a.a.O., S. 327; Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 9. Aufl. 2016, S. 359, Rz. 1191a; Waldmann, a.a.O., N 23 zu Art. 49).
In der neueren Lehre werden – wie vom Bundesgericht im Urteil 2C_308/2021 festgehalten – diesbezüglich differenziertere Ansichten vertreten. Nach Biaggini bleiben formell rechtkräftige Einzelakte, die sich auf bundesrechtswidriges kantonales Recht abstützten, aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes grundsätzlich gültig. Nur ganz ausnahmsweise komme für den Einzelakt die Rechtsfolge der Nichtigkeit in Betracht (Biaggini, a.a.O., N 8 zu Art. 49). Gemäss Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr wirkt die Aufhebung verfassungswidriger kantonaler Normen durch das Bundesgericht nur für die Zukunft (Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, a.a.O., S. 359 Rz. 1191). Konkrete Anwendungsakte, die aufgrund von bundesrechtswidrigem kantonalem Recht erfolgten, würden im Normalfall in formelle Rechtskraft erwachsen, wenn sie nicht mit Erfolg angefochten worden seien. Die Frage der Nichtigkeit stelle sich nur bei einem ganz schweren und offensichtlichen Mangel und nur, wenn die Nichtigkeit die Rechtssicherheit nicht ernsthaft gefährde (Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, a.a.O., S. 360 Rz. 1194). Nach Waldmann wirkt die Aufhebung «ex nunc et pro futuro», ohne dass es noch einer formalen Aufhebung durch den kantonalen Gesetzgeber bedarf. Bisher ergangene Rechtsanwendungsakte würden davon unberührt bleiben (Waldmann, a.a.O., N 22 zu Art. 49). Wo Bundesrecht und kantonales Recht dieselbe Rechtsfrage aus dem Bereich desselben Regelungsgegenstandes unterschiedlich regelten, liege i.d.R. gleichzeitig ein Kompetenz- und ein Normkonflikt vor. Für solche Konstellationen würden die folgenden Grundsätze zur Anwendung kommen (Waldmann, a.a.O., N 30 zu Art. 49): Eine Annahme der Nichtigkeit für eine kompetenzwidrige kantonale Regelung würde sich nur rechtfertigen, wenn die Kompetenzverletzung besonders schwer wiege, gleichzeitig aber auch offensichtlich zumindest leicht erkennbar und zudem die Rechtssicherheit dadurch nicht ernsthaft gefährdet sei. In den übrigen Fällen sei der Anwendungsakt lediglich anfechtbar (Waldmann, a.a.O., N 24 f. zu Art. 49). Gemäss Tschannen erwachsen Anwendungsakte gestützt auf kompetenzwidriges kantonales Recht in formelle Rechtskraft, wenn sie unangefochten bleiben. Nichtig wäre der Anwendungsakt nur in kaum denkbaren Extremfällen, nämlich, wenn er wegen der Kompetenzwidrigkeit des zugrundeliegenden kantonalen Erlasses einen besonders schweren Mangel aufweise, dieser Mangel offensichtlich zumindest leicht erkennbar sei und durch Annahme der Nichtigkeit die Rechtssicherheit nicht ernsthaftet gefährdet werde (vgl. Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl. 2021, S. 327 Rz. 847).
Zusammengefasst vertreten sämtliche zitierten Meinungen aus der neueren Lehre die Ansicht, dass gestützt auf eine bundesrechtswidrige Bestimmung erlassene, nicht angefochtene Einzelakte grundsätzlich weiterbestehen resp. in Rechtskraft erwachsen. Die Hürde für eine Nichtigkeit wird hoch angesetzt, wobei den allgemeinen bundesgerichtlichen Kriterien für die Nichtigkeit gefolgt wird: Fehlerhafte Entscheide sind nichtig, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er sich als offensichtlich zumindest leicht erkennbar erweist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird (BGE 144 IV 362 E. 1.4.3. mit Hinweisen). Dies gilt im Bereich der kompetenzwidrigen kantonalen Vorschriften unabhängig davon, ob es sich um die berufliche Vorsorge um andere Bereiche handelt, denn es muss im Sinne der Rechtssicherheit jede kantonale Vorschrift mit den gleichen Regeln überprüft werden können.
Die Nichtigkeit eines hoheitlichen Aktes muss jederzeit und von sämtlichen staatlichen Instanzen beachtet werden (BGE 130 III 430 E. 3.3).
3. Erwägungen der Kammer
Die Kammer sieht keinen Grund, von den obgenannten weitgehend übereinstimmenden Lehrmeinungen abzuweichen (vgl. Ziffer 26 hiervor), zumal diese einleuchtend Bezug nehmen auf die allgemeinen bundesgerichtlichen Voraussetzungen für die Nichtigkeit.
Gemäss Bundesgericht erwies sich die Teilnahmebegrenzung des Kantons Bern an Kundgebungen gemäss Art. 6a Covid-19 V als unzulässiger Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021). Die Bestimmung widersprach somit dem übergeordneten Bundesrecht, womit ein Normkonflikt vorliegt. Obwohl sich dieser Bundesgerichtsentscheid auf Art. 6a Covid-19 V, Stand 19. März 2021 [in Kraft vom 22. März 2021 bis 18. April 2021], bezog, müssen die entsprechenden Erwägungen zur Frage der Nichtigkeit sinngemäss auch für Art. 6a Covid-19 V, Stand 3. März 2021 [in Kraft vom 11.-21. März 2021], gelten, der im Zeitpunkt der Tatbegehung am 19. März 2021 in Kraft war: Die tatsächlichen Umstände, die rechtlichen Gegebenheiten und der Wortlaut der vorliegend relevanten Bestimmung haben sich in der Version vom 19. März 2021 im Vergleich zu jener vom 3. März 2021 nicht verändert.
Der Regierungsrat des Kantons Bern war gestützt auf Art. 33 EpG i.V.m Art. 2 und Art. 8 Covid-19 V (Stand am 15. März 2021) grundsätzlich zum Erlass der Covid-19 V befugt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021 E. 5.6.). Entscheidend für die Kompetenz zum Erlass weiterer Massnahmen war jedoch gemäss Art. 8 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand am 15. März 2021), ob die epidemiologische Lage diese Massnahme erforderte. Die Erforderlichkeit der Teilnahmebeschränkung gemäss Art. 6a Covid-19 V wurde vom Bundesgericht verneint, da das gesundheitspolitische Ziel mit milderen Massnahmen erreicht werden konnte und die Teilnahmebeschränkung angesichts des hohen öffentlichen Interesses an Kundgebungen weder erforderlich noch zumutbar war (zum Ganzen: Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021 E. 6 ff.). Der Regierungsrat des Kantons Bern hätte damit die Teilnahmebegrenzung auf 15 Personen nicht erlassen dürfen, da dies gemäss Art. 8 i.V.m. 6c Abs. 2 und 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand am 15. März 2021) in der Bundeskompetenz verblieb. Damit erweist sich Art. 6a Covid-19 V als kompetenzresp. bundesrechtswidriges kantonales Recht. Gemäss der neueren Lehre und der Ansicht der Kammer ist damit zu prüfen, ob der Mangel besonders schwer ist, die Fehlerhaftigkeit offensichtlich leicht erkennbar und die Rechtssicherheit durch die Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird (vgl. Erwägungen oben Ziff. 26).
Auch wenn dies von der Gesuchstellerin nicht vorgebracht wurde, kann festgehalten werden, dass der angefochtene Strafbefehl grundsätzlich durch die zuständige Staatsanwaltschaft erging. Eine funktionelle sachliche Unzuständigkeit liegt damit nicht vor (vgl. BGE 144 IV 362 E. 1.4.3.).
Nach dem Grundsatz, wonach eine Strafe nur wegen einer Tat verhängt werden darf, die das Gesetz ausdrücklich zur Straftat erklärt hat (nulla poena sine lege; Art. 1 StGB) und der Tatsache, dass Art. 6a Covid-19 V bundesrechtswidrig war, kann ohne Weiteres angenommen werden, es handle sich bei der Verfassungswidrigkeit der Teilnahmebeschränkung um einen besonders schweren Mangel.
In Bezug auf die Erkennbarkeit dieser Bundesrechtswidrigkeit sind die epidemiologischen Entwicklungen im Winter/Frühling 2021 zu berücksichtigen, die sich massgeblich auf die damaligen Erlasse ausgewirkt haben. Wie das Bundesgericht ausführte, kann als notorisch angenommen werden, dass seit Herbst 2020 wegen der grossen Zahl von Infektionsfällen eine umfassende Identifizierung und Benachrichtigung ansteckungsverdächtiger Personen nicht mehr möglich war (Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021 E. 5.4.4.). Am 18. Dezember 2020 – als der Kanton Bern Art. 6a Covid-19 V einführte – teilte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mit, die epidemiologische Lage sei besorgniserregend. Die Zahl der Ansteckungen sei sehr hoch und steige wieder an. Die Spitäler und das Gesundheitspersonal seien seit Wochen sehr stark belastet und die Festtage würden das Risiko eines beschleunigten Anstiegs erhöhen. Der Bundesrat habe deshalb an seiner Sitzung vom 18. Dezember 2020 nach Konsultation der Kantone die nationalen Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus noch einmal verstärkt. Ziel sei es, die Zahl der Kontakte stark zu reduzieren. Ab Dienstag, 22. Dezember 2020, seien Restaurants sowie Freizeit-, Sport- und Kultureinrichtungen geschlossen. Ziel der Massnahmen sei es, die Fallzahlen deutlich und rasch zu senken, um die Menschen vor dem Virus zu schützen, die Gesundheitsversorgung sicherzustellen und das Gesundheitspersonal zu entlasten. Den Kantonen müsse es wieder möglich sein, das Testen, die Nachverfolgung der Kontakte, die Isolation und die Quarantäne lückenlos zu gewährleisten (Medienmitteilung des BAG vom 18. Dezember 2020, http://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/-medienmitteilungen.msg-id-81745.html, zuletzt abgerufen am 28. Juli 2022). Am 24. Februar 2021 teilte der Bundesrat mit, ab Montag, 1. März 2021, könnten Läden, Museen und Lesesäle von Bibliotheken wieder öffnen, ebenso Aussenbereiche von Sport- und Freizeitanlagen, Zoos und botanischen Gärten. Im Freien seien Treffen im Familien- und Freundeskreis sowie sportliche und kulturelle Aktivitäten mit bis zu 15 Personen wieder erlaubt. Mit der vorsichtigen, schrittweisen Öffnung wolle der Bundesrat dem gesellschaftlichen Leben wieder mehr Raum geben, auch wenn die epidemiologische Lage wegen der neuen, ansteckenderen Virusvarianten weiterhin als fragil beurteilt wurde. Der erste Öffnungsschritt ab dem 1. März beinhalte im Wesentlichen Aktivitäten, bei welchen Maske und Abstand gewährleistet werden könne, nur wenige Personen zusammenkommen und die Kontakte im Freien erfolgen würden (Medienmitteilung des Bundesrats vom 24. Februar 2021, http://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-82462.html, zuletzt abgerufen am 28. Juli 2022). In der Medienmitteilung vom 19. März 2021 führte der Bundesrat schliesslich aus, die epidemiologische Lage seit Ende Februar 2021 habe sich zusehends verschlechtert. Die Zahl der Infektionen steige kontinuierlich an. Derzeit sei mit einer Verdoppelung der Ansteckungen alle drei bis vier Wochen zu rechnen. Drei der vier Richtwerte, die der Bundesrat für den zweiten Öffnungsschritt festgelegt habe, würden seit mehreren Tagen nicht erfüllt: Die 14-Tages-Inzidenz sei über 200 pro 100'000 Einwohnerinnen und Einwohner angestiegen, die Positivitätsrate liege über 5 Prozent und die Reproduktionszahl liege mit 1.14 deutlich über 1. Einzig die Auslastung der Intensivplätze mit Covid-19-Patientinnen und -Patienten liege unter dem festgelegten Richtwert. Daher habe der Bundesrat an seiner Sitzung vom 19. März 2021 entschieden, die geltenden Einschränkungen für Treffen im Familien- und Freundeskreis in Innenräumen von fünf auf maximal zehn Personen zu lockern. Für weitere Öffnungen sei das Risiko eines unkontrollierten Anstiegs der Fallzahlen aber zu gross, nachdem die Zahl der Infektionen seit Ende Februar wieder zunehme. Ausserdem seien noch zu wenige Menschen geimpft, um einen starken Anstieg der Hospitalisationen zu vermeiden (Medienmitteilung des Bundesrats vom 19. März 2021, http://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen/bundesrat.msg-id-82762.html, zuletzt besucht am 28. Juli 2022).
Wie den Medienmitteilungen zu entnehmen ist, änderte sich die Lage betreffend Covid-19 seit Herbst 2020 immer wieder. Die Rechtslage musste somit in hoher Kadenz der sich ständig ändernden und lokal auch unterschiedlichen epidemiologischen Lage angepasst werden. Dies zeigen die zahlreichen Änderungen der Verordnungen sowohl des Bundes wie auch des Kantons Bern. Die Covid-19-Verordnung besondere Lage änderte sich vom 19. Juni 2020 bis 19. April 2021 23 Mal (vgl. Chronologie der Covid-19-Verordnung besondere Lage; http://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2020/439/de/history, zuletzt besucht am 17. August 2022). Bei der Covid-19 V vom 9. Juli 2020 gab es bis am 21. April 2021 19 Änderungen (vgl. http://www.belex.sites.be.ch/app/de/texts_of_law/815.123/changes, zuletzt besucht am 28. Juli 2022). Die Übersicht über die konkrete epidemiologische Lage und die Kapazitäten im Gesundheitswesen des Kantons lagen dabei beim Kantonsarztamt resp. beim Regierungsrat. Aufgrund der sich ständig ändernden Situation und den teilweise erst im Nachhinein breit verfüg- und belastbaren Daten, war die Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmung für die Staatsanwaltschaft nicht offensichtlich, zumal Teilnahmebeschränkungen auf Bundeswie Kantonsebene immer wieder Teil von Massnahmenpaketen waren. Die Bundesrechtswidrigkeit von Art. 6a Covid-19 V wurde denn auch im Rahmen von komplexen, vielschichtigen und ausführlichen rechtlichen Überlegungen festgestellt, deren Ergebnis nicht als leicht erkennbar erachtet werden kann (vgl. Ziff. V.21 oben). Auch die mediale Präsenz und Abrufbarkeit der Beschwerde ans Bundesgericht vermag daran nichts zu ändern, ging die Staatsanwaltschaft doch mutmasslich von einer anderen rechtlichen Einschätzung aus. Rein aus der Tatsache, dass eine Beschwerde erhoben wurde, lässt sich noch keine Tendenz für das Ergebnis des bundesgerichtlichen Verfahrens ableiten. Sodann hat die Gesuchstellerin den vorliegenden Strafbefehl mit ordentlicher Einsprache auch nicht angefochten, weshalb sie zu diesem Zeitpunkt auch nicht von einer Bundesrechtswidrigkeit ausging. Jedenfalls war die Bundesrechtswidrigkeit sowohl für die Staatsanwaltschaft wie auch für Dritte damit nicht offensichtlich.
Schliesslich ist im Bereich des Strafrechts die Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung (BGE 144 IV 362 E. 1.4.3.). Die Gesuchstellerin hat den Strafbefehl nicht angefochten. Er ist damit in formelle Rechtskraft erwachsen. Unbeachtlich dabei ist die von der Gesuchstellerin vorgebrachte Rechtsgleichheit mit den die allfällig widersprechenden Einstellungsverfügungen. Nach der Rechtsprechung kann es nicht angehen, ein allenfalls noch nach Jahren unangefochten gebliebenes und in formelle Rechtskraft erwachsenes Strafurteil für nichtig zu erklären, da dadurch die Beständigkeit eines rechtskräftigen Entscheids unterlaufen und die Rechtssicherheit gefährdet würde (vgl. BGE 144 IV 362 E. 1.4.3). Zusätzlich fällt ins Gewicht, dass die besondere Lage der Covid-19-Pandemie ein agiles und flexibles Verhalten der Bevölkerung und der Behörden erforderte. Zahlreiche Massnahmen entfalteten ihre Wirkung nur bei einer sofortigen und lückenlosen Umsetzung. Gerade in der Situation einer ständig ändernden Bedrohungslage war es für die Rechtssicherheit in der Bevölkerung und bei den umsetzenden Behörden deshalb unumgänglich, dass auf die Gültigkeit und die Durchsetzbarkeit von kurzfristig erlassenen Massnahmen vertraut werden konnte. Die wirksame Bekämpfung einer Bedrohungslage ist nur möglich, wenn sowohl rechtsunterworfene als auch rechtsanwendende Personen davon ausgehen können, dass angeordnete Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung während der unmittelbaren Dauer der Bedrohungslage umzusetzen sind und durchgesetzt werden können. Dies gilt besonders für die bisher unbekannte Situation einer Pandemie mit immer neuen, teilweise unerwarteten Entwicklungen, auf die in rechtlicher Hinsicht rasch reagiert werden muss(te). Dieser Effekt wird durch mediale Präsenz der jeweils geltenden Vorschriften verstärkt. Sämtliche Entwicklungen im Zusammenhang mit der Pandemie wurden vom Bund wie auch von den Kantonen der Bevölkerung medienwirksam mitgeteilt und erhielten damit grösstmögliche Aufmerksamkeit bei einem breiten Adressatenkreis. Dies führt dazu, dass sich Unsicherheiten über die Geltung erlassener Vorschriften direkt auf die Umsetzungsdisziplin bei grossen Teilen der Bevölkerung niederschlagen würde.
Im Ergebnis würde es aus diesen Gründen die Rechtssicherheit ernsthaft gefährden, wenn der vorliegende Strafbefehl für nichtig erklärt würde.
4. Fazit
Art. 6a Covid-19 V litt aufgrund der festgestellten Bundesrechtswidrigkeit an einem besonders schweren Mangel, diese Fehlerhaftigkeit war aber weder offensichtlich noch leicht erkennbar. Durch die Feststellung einer Nichtigkeit des nicht angefochtenen und formell in Rechtskraft erwachsenen Strafbefehls würde die Rechtssicherheit ernsthaft gefährdet, zumal die Verfassungswidrigkeit auch im ordentlichen Rechtsmittelverfahren hätte vorgebracht werden können. Damit besteht der formell rechtskräftige Strafbefehl weiter, es liegt keine Nichtigkeit vor. Auch die Edition von Einstellungsverfügungen beim Gericht der Staatsanwaltschaft erweist sich nach dem Gesagten nicht als geeignet, um vorliegend eine Nichtigkeit zu begründen.
VII. Revisionsgründe
1. Allgemeines zur Revision
Wer durch einen rechtskräftigen Strafbefehl beschwert ist, kann nach Art. 410 Abs. 1 StPO die Revision verlangen, wenn neue, vor dem Entscheid eingetretene Tatsachen neue Beweismittel vorliegen, die geeignet sind, einen Freispruch, eine wesentlich mildere wesentlich strengere Bestrafung der verurteilten Person eine Verurteilung der freigesprochenen Person herbeizuführen; der Entscheid mit einem späteren Strafentscheid, der den gleichen Sachverhalt betrifft, in unverträglichem Widerspruch steht und/oder sich in einem anderen Strafverfahren erweist, dass durch eine strafbare Handlung auf das Ergebnis des Verfahrens eingewirkt worden ist; eine Verurteilung ist nicht erforderlich; ist das Strafverfahren nicht durchführbar, so kann der Beweis auf andere Weise erbracht werden.
2. Neue Tatsachen und Beweismittel
Die Revision wegen neuer Tatsachen Beweismittel ist nur möglich, wenn sich der dem Urteil zugrunde gelegte Sachverhalt nachträglich als unrichtig erweist (Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, Rz. 2166). Tatsachen sind Umstände, die im Rahmen des dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalts von Bedeutung sind. Es handelt sich um objektiv feststehende, sinnlich wahrnehmbare Vorgänge Zustände aus Vergangenheit Gegenwart, die im Rahmen des dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalts von Bedeutung sind (Urteil des Bundesgerichts 6B_1175/2020 vom 26. April 2021 E. 3.1. mit weiteren Hinweisen).
Eine Gesetzesänderung nach Rechtskraft des Urteils stellt keinen Revisionsgrund dar, ebensowenig eine neue geänderte Rechtsanschauung eine Änderung der Rechtsprechung. Mit der Revision soll der dem Urteil zugrunde gelegte Sachverhalt, der als unrichtig erachtet wird, korrigiert werden. Es wird nicht eine Überprüfung Änderung seiner rechtlichen Würdigung vorgenommen (vgl. Heer, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung/Jugendstrafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N 51 zu Art. 410 StPO).
Die von der Gesuchstellerin vorgebrachte Revisionsbegründung, wonach Art. 6a Covid-19 V nicht als Grundlage für eine Verurteilung diene, stellt eine Rechtsfrage und keine neue Tatsache dar. Einen neuen Sachverhalt ein neues Beweismittel im revisionsrechtlichen Sinne bringt die Gesuchstellerin nicht vor.
Auch die von der Gesuchstellerin angerufenen Einstellungsverfügungen beschlagen lediglich die rechtliche Subsumtion und nicht den dem Strafbefehl vom 6. August 2021 zugrundeliegenden Sachverhalt.
Die Voraussetzungen für den Revisionsgrund nach Art. 410 Abs. 1 Bst. a StPO sind damit nicht erfüllt.
3. Sich widersprechende Strafentscheide
31.1. Allgemeine Ausführungen
Steht ein Strafbefehl mit einem späteren Strafentscheid in unverträglichem Widerspruch, wird der Revisionsgrund nach Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO angerufen. Diese Bestimmung schafft einen absoluten Revisionsgrund, dessen Vorliegen unabhängig von den denkbaren Rückwirkungen auf das Strafurteil zu einer Revision führt. Bei Vorliegen eines unverträglichen Widerspruchs wird der frühere Entscheid somit ohne Prüfung der materiellen Richtigkeit aufgehoben (Fingerhuth, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Auf., 2020, N 63 zu Art. 410 StPO; Heer, a.a.O., N 88 zu Art. 410 StPO; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, N 2173; Schmid/Jositsch, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, N 15 zu Art. 410 StPO).
Nicht jeder Widerspruch zwischen zwei Strafurteilen stellt einen unverträglichen Widerspruch i.S.v. Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO dar. Ein Widerspruch in der Rechtsanwendung eine nachträgliche Änderung der Rechtsprechung ist nicht revisionsbegründend (Urteil des Bundesgerichts 6B_932/2019 vom 5. Mai 2020 E. 2.3.1 mit Hinweisen auf Lehre, Rechtsprechung und Materialien, u.a. auf die Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1320 Ziff. 2.9.4). Erforderlich ist ein Widerspruch in tatsächlicher Hinsicht. Ein solcher liegt vor, wenn die Anklage in beiden Entscheiden den gleichen Lebenssachverhalt umfasst und dieser im späteren Entscheid als nicht nachweisbar angesehen wird, während er im früheren Entscheid als erstellt erachtet wurde (Oberholzer, a.a.O., N 2173 mit Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts 6B_980/2015 vom 13. Juni 2016 E. 1.4 f.). Damit erfasst werden diejenigen Fälle, in denen der gleiche Lebenssachverhalt in zwei verschiedenen Entscheiden unterschiedlich gewürdigt wird. Der Widerspruch ist erst dann unverträglich, wenn nach den Denkgesetzen eines der beiden fraglichen Urteile notwendigerweise falsch sein muss. Die Bestimmung hat ihren eigentlichen Anwendungsbereich dort, wo bei getrennter Verfolgung verschiedener Mitbeteiligter einer Straftat ein Mittäter verurteilt wird, während ein anderer später mit der Begründung freigesprochen wurde, die Tat sei hinsichtlich des objektiven Tatbestands nicht erwiesen. Gleiches gilt, wenn zwei Angeklagte hintereinander als Täter einer Alleintat verurteilt werden (Fingerhuth, a.a.O., N 64 zu Art. 410 StPO; Heer, a.a.O., N 90 f. zu Art. 410 StPO; Schmid/Jositsch, a.a.O., N 15 zu Art. 410 StPO).
31.2. Einstellungsverfügung als widersprechender Strafentscheid
Von der Gesuchstellerin wird vorgebracht, als Reaktion auf das Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021 seien durch die Staatsanwaltschaft und das Regionalgericht Bern-Mittelland noch hängige Einspracheverfahren im Zusammenhang mit der Kundgebung vom 12. April 2021 eingestellt worden (vgl. auch «Nur die Einsprecher kommen straffrei davon» in: «Der Bund» vom 22. Dezember 2021). Im Unterschied zur Gesuchstellerin, die den Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen liess, wurden andere Personen für den Verstoss gegen Art. 6a Covid-19 V somit nicht bestraft.
Die Generalstaatsanwaltschaft führt aus, die von der Gesuchstellerin genannten Einstellungsverfügungen würden ein Prozessurteil und keinen Strafentscheid im Sinne von Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO darstellen.
Die Frage, ob eine Einstellungsverfügung einen Strafentscheid im Sinne von Art. 410 Abs. 1 Bst. a StPO darstelle, hatte das Bundesgericht soweit ersichtlich noch nicht explizit zu beurteilen. Der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich jedoch Folgendes entnehmen: In BGE 144 IV 362 ging es darum, dass die Staatsanwaltschaft in einem Strafbefehl den Beschuldigten verurteilte und das Verfahren gleichzeitig in Bezug auf eine andere rechtliche Würdigung desselben Lebensvorgangs einstellte. Das Bundesgericht führte aus, dass im Bereich des Strafrechts die Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung sei. Es könne nicht angehen, allenfalls noch nach Jahren ein unangefochten gebliebenes und in formelle Rechtskraft erwachsenes Strafurteil nichtig zu erklären. Gleiches habe für freisprechende Urteile und Einstellungen zu gelten, die gemäss Art. 320 Abs. 4 StPO einem freisprechenden Endentscheid gleichkämen. Nehme man Nichtigkeit einer in Rechtskraft erwachsenen Einstellungsverfügung an und lasse eine (erneute) strafrechtliche Beurteilung desselben Lebenssachverhalts zu, werde dadurch die Beständigkeit eines rechtskräftigen verfahrenserledigenden Entscheids unterlaufen und damit die Rechtssicherheit gefährdet (E. 1.4.3.). Im Ergebnis ging das Bundesgericht davon aus, dass der Lebenssachverhalt, der Gegenstand des gegen den Beschuldigten geführten Strafverfahrens gebildet habe, rechtskräftig eingestellt wurde. Die Sperrwirkung der rechtskräftigen (Teil-)Einstellung stehe einer Verurteilung entgegen (E. 1.4.4.). Im Urteil des Bundesgerichts 6B_438/2020 vom 9. Januar 2021 ging es um den rechtswidrigen Aufenthalt zu verschiedenen Zeiträumen. Das Bundesgericht hielt zum Revisionsgrund der einander widersprechenden Strafentscheide fest, dass die einem Strafbefehl, den staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügungen sowie dem obergerichtlichen Urteil zugrundeliegende Sachverhalte nicht übereinstimmen würden. Es sei nicht von Bedeutung, dass der rechtswidrige Aufenthalt in späteren Entscheiden rechtlich anders beurteilt und die Verfahren in der Folge eingestellt worden seien (E. 2.3.).
Eine rechtskräftige Einstellungsverfügung kommt einem freisprechenden Endentscheid gleich (Art. 320 Abs. 4 StPO). Sie erwächst in materielle und formelle Rechtskraft, was wiederum zum Verbot der doppelten Strafverfolgung führt (BGE 144 IV 362 E. 1.4.4.; Grädel/Heiniger, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar zur Schweizerischen StPO, 2. Aufl. 2014, N 14 zur Art. 320). Eine Einstellungsverfügung basiert zudem entscheidend auf einer materiellen Grundlage. Aus diesen Gründen kommt einer Einstellungsverfügung nach Ansicht der Kammer die Qualität eines Sachentscheides zu. Dementsprechend stellen die von der Gesuchstellerin angerufenen Einstellungsverfügungen keine reinen Prozessurteile dar, welche der Tauglichkeit als widersprechendes Urteil im Sinne von Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO entgegenstehen könnten. Es könnte auch kein solcher Sachentscheid mehr gefällt werden, da die entsprechenden Verfahren wegen Bundesrechtswidrigkeit der Bestimmung einzustellen waren. Die Einstellungsverfügung kommt somit grundsätzlich als widersprechendes Urteil gemäss Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO in Frage (auch in diesem Sinne: Beschlüsse des Obergerichts des Kantons Zürich SR20021 vom 18. Dezember 2020, SR190008 vom 7. Mai 2019, SR180026 vom 30. Januar 2019, SR180016 vom 23. Januar 2019).
31.3. Widersprüchlicher gleicher Sachverhalt
Mit Strafbefehl vom 6. August 2021 erklärte die Staatsanwaltschaft die Gesuchstellerin wegen Widerhandlung gegen das Epidemiengesetz durch Teilnahme an einer Kundgebung von mehr als 15 Personen begangen in Bern, Waisenhausplatz, schuldig. Es soll sich folgender Sachverhalt zugetragen haben (BM.__):
Im Wissen um die angeordneten Massnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bevölkerung (Corona-Pandemie), wonach der Kanton Bern politische Kundgebungen von mehr als 15 Personen verboten waren, nahm die beschuldigte Person willentlich an der Kundgebung «Klimastreik Sitzstreik» mit rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern teil.
Die Gesuchstellerin bringt vor, die erfolgten Einstellungen würden Strafbefehle mit identischem Sachverhalt betreffen, weshalb der Revisionsgrund der sich widersprechenden Strafentscheide erfüllt sei. Wie eingangs ausgeführt, reicht es aber für diesen Revisionsgrund nicht aus, dass der angeklagte Sachverhalt identisch ist. Entscheidend ist vielmehr, ob die Sachverhaltsfeststellungen zweier Urteile zum gleichen Vorwurf in einem unverträglichen Widerspruch stehen.
Auch ein Widerspruch in der Rechtsanwendung reicht nicht aus, um einen Revisionsgrund nach Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO zu begründen. So hat das Bundesgericht in 6B_932/2019 vom 5. Mai 2020 indirekt ausgeführt, eine bloss abweichende rechtliche Würdigung im subjektiven Bereich genüge nicht, um einen Widerspruch im Sinne von Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO zu begründen (E. 2.4.). Der Umstand, dass sich ein Urteil bzw. ein Strafbefehl im Nachhinein als rechtlich falsch herausstellt und im Vergleich mit einem später ergangenen Strafentscheid ein Widerspruch in der Rechtsanwendung vorliegt, begründet noch keinen Revisionsgrund (vgl. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 S. 1320; Fingerhuth, a.a.O., N 64 zu Art. 410 StPO; vgl. auch BGE 75 IV 181, S. 184, E. 2). Der Widerspruch im Sinne von Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO hat sich vielmehr auf ein tatsächliches Element zu beziehen. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn zwei mehrere Personen für dieselbe Straftat in zwei sich widersprechenden Strafentscheiden verurteilt würden, wobei gemäss dem jeweiligen Sachverhalt die jeweils andere Person unschuldig sein muss und es somit zu einem logischen Widerspruch hinsichtlich der erstellten Sachverhalte kommt (vgl. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 S. 1320, Fingerhuth, a.a.O., N 64 zu Art. 410 StPO).
Aus den Ausführungen der Gesuchstellerin sowie der medialen Berichterstattung geht hervor, dass die den angerufenen Einstellungsverfügungen zugrundeliegenden Verfahren mangels genügender gesetzlicher Rechtsgrundlagen eingestellt werden mussten. Es handelt sich dabei um eine rechtliche Begründung. Abweichungen in der Sachverhaltsfeststellung sind keine ersichtlich. Sofern überhaupt die gleichen Sachverhalte vorliegen, handelt es sich vorliegend somit allenfalls um einen Widerspruch in der Rechtsanwendung, aber nicht um einen Widerspruch betreffend den Sachverhalt. Es ist somit kein unverträglicher Widerspruch im Sinne von Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO gegeben.
30.1. Urteil des Bundesgerichts als widersprechender Strafentscheid
Soweit die Gesuchstellerin sinngemäss weiter geltend macht, der im Strafbefehl vom 6. August 2021 zugrundeliegende Sachverhalt betreffe den gleichen Sachverhalt wie das Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021, kann dem nicht gefolgt werden. Beim Urteil des Bundesgerichts 2C_308/2021 vom 3. September 2021 handelt es sich um einen Entscheid in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 95 Bst. a und b des Bundesgerichtsgesetzes (BGG; SR 173.110). Ein Strafverfahren lag dem Bundesgerichtsentscheid nicht zu Grunde, womit es sich nicht um einen Strafentscheid im Sinne von Art. 310 Abs. 1 Bst. b StPO handelt.
4. Übrige Revisionsgründe
Es wurden weder weitere Revisionsgründe vorgebracht noch sind solche ersichtlich.
VIII. Fazit
Zusammengefasst liegt dem Strafbefehl der Gesuchstellerin eine verfassungswidrige Bestimmung zu Grunde. Dies stellt einen schweren Mangel dar, der grundsätzlich eine Nichtigkeit begründen könnte. Diese Fehlerhaftigkeit war aber weder offensichtlich noch leicht erkennbar, was einer Nichtigkeit entgegensteht. Zusätzlich würde vorliegend die Nichtigkeit bereits rechtskräftiger, nicht angefochtener Rechtsakte die Rechtssicherheit stark gefährden. Dabei fällt besonders ins Gewicht, dass im Kampf gegen die Covid-19 Pandemie rasche und effektive Reaktionen zentral sind. Unsicherheiten betreffend die Durchsetzbarkeit der oft kurzfristig erlassenen Massnahmen würden eine wirksame Bekämpfung der Pandemie verunmöglichen.
Auch die sinngemäss angerufenen strafprozessualen Revisionsgründe sind nicht erfüllt. Insbesondere liegen keine sich widersprechenden Strafentscheide im Sinne von Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO vor, da sich die Widersprüchlichkeit zur eingereichten Einstellungsverfügung aus rechtlichen Überlegungen und nicht aus Unterschieden in den Sachverhaltsfeststellungen ergibt.
Das Revisionsgesuch betreffend den Strafbefehl vom 26. August 2021 ist somit abzuweisen. Es erübrigen sich daher weitere Ausführungen zu den weiteren Vorbringen der Gesuchstellerin.
IX. Kosten- und Entschädigungsfolgen
1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Kosten nach Massgabe von Art. 428 Abs. 1 StPO der Gesuchstellerin auferlegt.
Die Verfahrenskosten werden in Anbetracht der konkreten Umstände und in Anwendung von Art. 25 Abs. 1 Bst. a des Verfahrenskostendekrets (VKD; BSG 161.12) auf eine Pauschalgebühr von CHF 200.00 festgesetzt.
2. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Gesuchstellerin keinen Anspruch auf eine Entschädigung.



X. Dispositiv
Die 2. Strafkammer beschliesst:
1. Die von der Gesuchstellerin beantragte Edition weiterer Einstellungsverfügungen wird abgewiesen.
2. Das Revisionsgesuch vom 24. September 2021 wird abgewiesen.
3. Die Kosten des Revisionsverfahrens, bestimmt auf eine Pauschalgebühr von CHF 200.00, werden der Gesuchstellerin zur Bezahlung auferlegt.
4. Für das Revisionsverfahren wird keine Entschädigung ausgerichtet.
5. Zu eröffnen:
• der Verurteilten/Gesuchstellerin
• der Generalstaatsanwaltschaft/Gesuchsgegnerin
Mitzuteilen:
• der Regionalen Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland (mit den Akten; nach unbenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. nach Entscheid der Rechtsmittelbehörde)
• dem Bundesamt für Gesundheit (nach unbenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. nach Entscheid der Rechtsmittelbehörde)


Bern, 4. November 2022
Im Namen der 2. Strafkammer
Die Präsidentin:
Oberrichterin Bratschi

Der Gerichtsschreiber:
Jaeger
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Zustellung beim Bundesgericht, Av. du Tribunal fédéral 29, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 39 ff., 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG; SR 173.110) geführt werden. Die Beschwerde muss den Anforderungen von Art. 42 BGG entsprechen.
Quelle: https://www.zsg-entscheide.apps.be.ch/tribunapublikation/

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